Mit dem Aufstand der Volksmassen in den wichtigsten Städten Ägyptens kommt die Unruhe in den arabischen Ländern nunmehr viel massiver zum Ausbruch als zuvor in Tunesien – dem mutigen Vorreiter. In Ungewißheit, wie das Regime reagieren wird, wie lange es sich vielleicht noch hält und welche politischen Kräfte sich eventuell an seiner Statt durchsetzen werden, kann man dem mit seinen mehr als 80 Millionen Menschen bei weitem größten Land der Region – als relativ uninformierter Beobachter von außen – vorerst nur Sympathie und den Wunsch aussprechen, daß tatsächlich ein Umsturz gelingt, der das volksfeindliche, entwicklungsfeindliche, in brutaler Ausbeutung verkrustete Regime von Mubarak ersetzt durch neue Kräfte, die das Volk wenigstens weniger entrechten. Hoffentlich gelingt es darüber hinaus den Volksmassen auch, sich festere demokratische Positionen und Mitspracherechte zu erobern. Der Kampf um Machtpositionen hat gerade erst begonnen.
Besonderer Betonung und Beachtung wert scheint mir für die Aufständischen in der arabischen Welt und alle in anderen Teilen der Welt, die mit ihnen sympathisieren, jetzt die Frage, wie die vielen Millionen Jugendlichen und jungen Erwachsenen dort, die heute zu 80% oder mehr arbeits- und perspektivlos sind, zukünftig Arbeit finden werden. Warum haben sowohl die bisherigen Regime wie auch die internationale Ökonomie völlig versagt bei der Schaffung wirtschaftlicher Grundlagen, auf denen sich Demokratie, politische und kulturelle Emanzipation der Massen überhaupt erst aufbauen können? Wie konnte es dahin kommen, daß diese Länder gleichzeitig sehr jung sind, mehr als die Hälfte der Bevölkerung bspw. Ägyptens ist jünger als dreißig Jahre, und ihre Arbeitslosigkeit gleichzeitig bei 70 oder 80 % liegt? Solche Angaben (ihre Genauigkeit muß überprüft werden, was ich natürlich nicht beanspruchen kann) finden sich unter ferner liefen auch gelegentlich in unseren Medien, verdienen aber ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt zu werden. Nicht viel anders steht es in vielen weiteren Ländern rund um den Globus.
Meiner Ansicht nach tritt hier nicht nur der Bankrott der jeweiligen Regime zutage, sondern auch die Unverträglichkeit des heutigen kapitalistischen Systems mit den elementaren Existenzforderungen großer Teile der heutigen Weltbevölkerung. Dieser Kapitalismus läßt die Entfaltung von Produktivkräften, und das sind vor allem und in ganz besonderer Weise die Menschen, die arbeiten und sich entwickeln können, nur in begrenzter Weise zu. Wo Menschenmassen nicht unmittelbar Profit für das Kapital erbringen können, wo bspw. Investitionen in wirtschaftliche Grundlagen nicht rasch genug in Maximalprofit umgesetzt werden können, wo es bspw. dem Kapital günstiger erscheint, Unterentwicklung, Armut, Unterkonsumtion und mangelnde Bildung zu konservieren (auch weil es sich so besser herrschen läßt? weil zur Aufrechterhaltung internationaler Machtstrukturen Entwicklung nur an bestimmten Stellen des Globus sein darf?), da läßt es Entwicklung der Produktivkräfte ebenso eklatant vermissen wie es sich an anderen Stellen mit Entwicklungen brüstet.
Übrigens sind islamistische Strömungen auf ihre Art und an ihrem Platz besonders radikale Promotoren dieser Anti-Emanzipation und stehen im Prinzip grundsätzlich quer zu einem solchen Aufbegehren, wie es sich jetzt zeigt. Man kann durchaus von Kollusion, von einer Art hintergründigen Zusammenspiels zwischen den reaktionärsten internationalen Strömungen des Kapitalismus und solchen islamistischen Kräften sprechen.
Die jetzt notwendige Kritik betrifft daher in meinen Augen vor allem auch das internationale kapitalistische System, von dem die Volkswirtschaften solcher Länder wie Tunesien und Ägypten in geradezu erniedrigender Weise nach wie vor in Abhängigkeit und Überschuldung gehalten werden. Solchen Abhängigkeitsverhältnissen entsprechen die reaktionären Regime, die jetzt mit Recht so massiv unter Beschuß kommen. Logischerweise kann die Auseinandersetzung bei ihnen nicht stehen bleiben, sondern sie wird nur dann zu positiven Ergebnissen führen, wenn sie die internationalen Realitäten, den internationalen Kapitalismus und seine führenden Machtzentren in die Kritik einbezieht und Konzepte entwickelt, die denen gegenüber neu und überlebensfähig zu sein versprechen.
Die Aufstände in der arabischen Welt können mE auch als eine Anregung an die Jugend der entwickelten Länder verstanden werden, die zunehmend selbst die brutale Auslese durch das Kapital kennenlernt und zu erheblichen Teilen selbst an den sozialen Rand gedrängt zu werden droht, auch wenn das hier bei weitem noch nicht so offen und kraß praktiziert wird wie dort. Es wäre bestimmt gut, wenn gerade auch die jungen Generationen auf beiden Seiten des Mittelmeers jetzt stärker in Kontakt treten und auch über Politik und Ökonomie diskutieren würden.