Ein paar Bemerkungen zu dem derzeitigen pädagogischen Bestseller von Amy Chua, „Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte“
Gegenüber dem Verfall der Pädagogik im „Westen“ ist es zunächst einmal selbstverständlich angebracht zu fragen, ob nicht solche Prinzipien wie Chua sie hochhält (strengere Anforderungen, mehr Vertrauen auf die Lernfähigkeiten der Kinder/Jugendlichen, Disziplin und ständige Kümmerei von Eltern…) Vorteile haben. Diese Prinzipien sind nach Chuas Meinung die chinesischen (oder allgemeiner die asiatischen) Grundpfeiler der Pädagogik und mangeln in hohem Maße dem „Westen“, d.h. den USA, Europa etc.
Ich meine demgegenüber, daß nicht nur der Stand der Pädagogik im „Westen“ große Frage aufwirft, sondern auch: Die Grundlagen des chinesischen Drillsystems sind fragwürdig, fragwürdiger noch als seine Methoden im Einzelnen.
Disziplin, strenge Anforderungen im Vertrauen auf die zu weckende Leistungsfähigkeit, Wettbewerb etc. sind „an sich“ natürlich nicht von vornherein schlecht und auch im Westen durchaus präsent, ohne solche Dinge kommt man nicht aus. Man kann allerdings Pädagogik auch nicht hauptsächlich darauf reduzieren. Das wäre altertümlich.
Es muß nach den Voraussetzungen der theatralischen Aufführung gefragt werden, die Chua mit dem Gegensatz von „chinesisch“ und „westlich“ veranstaltet.
1. Welchen gesellschaftlichen Strukturen entspricht Chuas „asiatisches“ Modell, zu welchen Strukturen führt es seinerseits hin?
2. Warum ist die Pädagogik im „Westen“ derzeit von solchen massenhaften Verfallserscheinungen geprägt, wie wir und natürlich auch Chua sie beobachten, was sind die gesellschaftlichen Ursachen für Minderforderungen, Leistungsfeindschaft, Permissivität etc.?
3. In welchem Verhältnis sollen die – besseren Elemente – der asiatischen Methoden zu moderneren pädagogischen Prinzipien stehen? Welche Synthese ist anzustreben?
ad 1. Folgt man Chua, dann ist das überragende Prinzip der Eltern, daß „mein Kind besser sein muß“ als die anderen. In was es besser sein soll, d.h. die Frage der zu lernenden Inhalte, wird ebenso ausgeklammert wie die Frage, ob Lernen nicht in erster Linie ein kollektiver Prozeß zum Nutzen der Gesellschaft ist und als solcher begriffen und geregelt werden sollte.
Was soll das für eine Gesellschaft sein, in der Eltern wie Kinder die gesellschaftlichen Fragen nicht interessieren, sondern nur die Frage, wie „ich“ bzw. „mein Kind“ den Wettbewerb um die besten Zensuren, und in der Fortsetzung um die besten Stellen in Staat oder auch im Kapitalismus, gewinnt. Das ist doch wohl nicht weit entfernt von den widerwärtigen feudalen Prinzipien des Alten China, wo es hieß „wer gut lernt, kann Beamter werden“ – m.a.W. wer im Wettbewerb (um das variierte Herbeten kanonisierter Aussagen) gewinnt, darf auf den Platz an der Sonne hoffen, die anderen können sich auf dem Acker abplacken und werden von den „Beamten“ mit Verachtung und Auspressung geplagt.
Was soll das für eine Kultur sein, in der ein scheinbar fester, nicht hinterfragter Kanon von zu lernenden Fertigkeiten (hier wurde typischerweise das – reproduktive – Klavier- bzw. Geigenspielen gewählt) als invariabler Austragungsort des sozialen Wettbewerbs dient und damit stets neu befestigt wird, statt daß gefragt wird, ob das zu Lernende gehaltvoll ist, welchen Gehalt es eigentlich hat, ob es in unsere Zeit paßt, ob es zur Neuschaffung anregt oder v.a. bloß die Reproduktionsfähigkeiten trainiert.
ad 2. „Der Westen“ leidet historisch im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert unter der Feindschaft des Kapitalismus zu seinen Massen und dessen Desinteresse an deren wirklicher Bildung. Die Mißstände im Bildungswesen, in unserem Land zum Beispiel, haben nicht nur mit Mängeln des pädagogischen Erbes, sondern sehr stark auch mit einer ganz bestimmten historischen Situation dieses Kapitalismus und seinen aktuellen Interessen zu tun, namentlich mit der derzeitigen Verlagerung der globalen Entwicklungsschwerpunkte nach China etc. zu tun.
Hier liegen die tieferen Hintergründe für Erscheinungen im Westen wie die – staatlicherseits organisierte – Dominanz verfehlter pädagogischer Ansätze, die Unterfinanzierung des Bildungswesens und die zunehmende Entfremdung vieler Kinder und Jugendlichen von Bildung und Kultur, ja von jeder Haltung des Interesses daran.
Diese Erscheinungen registriert Chua durchaus, an der Oberfläche, und kritisiert sie – mit einer gewissen Selbstgefälligkeit. Es sind aber, wenn man Chuas Froschperspektive verläßt, Erscheinungen, die kapitalistisch durchaus Sinn machen, wenn nämlich China und andere, vorwiegend ostasiatische Länder, vielleicht auch Indien, die andere Seite der globalen Waage bilden. Hier wünscht man derzeit mehr leistungsfähige disziplinierte Menschen, die dem aufstrebenden chinesischen und bislang noch auch dem globalen Kapitalismus zukünftige Profitquellen sind. Das ist wohl der faktische Hauptgrund, warum solche Prinzipien, wie Chua sie propagiert, die diesen Wünschen zu entsprechen scheinen, dort Konjunktur haben. Sie wirken auch in die USA hinein und erfassen bestimmte Kreise, was zum Überlebenskonzept des US-Imperialismus gehört. Dieser importiert auch massenhaft ihm passend erscheinende Menschen aus Ostasien. Dem US-Imperialismus scheint Chua übrigens bedingungslos politisch ergeben zu sein.
Mit seinen halbkonfuzianisch-feudalen Erziehungsmaßstäben unterminiert das heutige bürokratisch-kapitalistische China allerdings selbst wiederum nicht wenig die Position, die ihm der Kapitalismus heute eigentlich zuschreibt: Entwicklungs- und Wachstumsregion zu sein – damit er anderswo um so schnöder auf die Bremse treten kann. Dieser chinesische Widerspruch ist in dem globalen kapitalistischen Konzept unvermeidlich. Ich möchte hier deutlich darauf hinweisen, daß der heutige bürokratische Kapitalismus in China seinen Ausgangspunkt vom Umsturz des früheren Sozialismus in China genommen hat, der gerade in seiner letzten Phase unter Mao Zedong ab ca. 1971 chinesische bürokratische und konfuzianistische Prinzipien zunehmend direkt und fundamental kritisiert hatte. Die Unterordnung im allumfassenden Beamtenapparat, die absolute Unterordnung der Kinder unter ihre Eltern und die Dominanz des familiären Clans einschließlich Ahnenkult in den sozialen Vorstellungen waren solche konfuzianischen Prinzipien, die ab 1971, nach dem Lin-Biao-Putschversuch, heftig angegriffen wurden. Mit der Machtusurpation der bürokratisch-kapitalistischen Parteimachthaber ab 1976 sukzessive wurde diese Kritik abgebrochen und Konfuzius kam erneut aufs Podest.
Derartige Widersprüche bilden echte hotspots und werden dem chinesischen Volk – und der Welt – noch große Auseinandersetzungen bescheren.
ad 3. Mit das Ansprechendste an Chuas Buch ist ihre durchaus aufrichtig wirkende Schilderung des Scheiterns ihres „asiatischen Konzepts“ an ihrer jüngeren Tochter. Nach einer Reihe von Jahren des Drills und der zunehmenden Zwangsjacke brechen diese an deren Widerstand zusammen. Die Tochter wählt als 13-.jährige autonom den Tennissport als ihr Hauptinteresse und setzt die Geige auf 10% des bisherigen Aufwands herunter (ohne übrigens ihre ganz die Zuneigung zu entziehen), und setzt sich damit schließlich gegen ihre Mutter durch, die das akzeptieren muß, ohne es recht verstehen zu können.
Man könnte aus diesem Schluß (die Tochter sagt schließlich auch „Natürlich bin ich froh, dass du mich gezwungen hast, Geige zu spielen“ – S. 247) entnehmen, daß Chua und ihre Töchter an eine Synthese denken – die allerdings mehr wie ein bloßes Nebeneinander aussieht. Chua formuliert „Das Beste aus beiden Welten. Die chinesische Methode, bis das Kind achtzehn ist, damit es Selbstvertrauen entwickelt und den Wert von Bestleistungen schätzen lernt, danach die westliche Art. Jedes Individuum muß sich seinen Weg selbst suchen“ – S. 246.)
Ein völlig schematisches Nacheinander, nicht einmal ein Miteinander, das von einer der Töchter natürlich sofort in Frage gestellt wird, aber lt. Chua lediglich hinsichtlich der Zeitmarke 18 Jahre. Die Fokussierung auf eine solche willkürliche Marke geht der eigentlichen Frage, was nämlich zu welchem Zweck wie gemischt werden soll, aus dem Weg. Wollten die Beteiligten aber tatsächlich nun über Verschiebungen der Zeitmarke diskutieren, dann müßten die Probleme des Inhalts der angedachten „Mischform“ gleich wieder hochkommen. An diesem Punkt bricht Chua ihr Fazit aber kurzerhand ab. Die Frage wird jeglicher Vertiefung entzogen.
Wie die Synthese aussehen soll, bleibt also undiskutiert.
Wenn man sie diskutieren wollte, müßten zuvörderst diejenigen Dimensionen der Erziehung in Betracht gezogen werden, für die Chua in ihrer chinesisch-archaischen Tradition anscheinend von vornherein blind ist: Erziehung ist eine gesellschaftliche Aufgabe – unter Beteiligung von Eltern (selbstverständlich unter – zumindest zeitweiser – dominanter Beteiligung, schon wegen der elementaren biologischen Verbundenheit v.a. im Säuglingsalter etc. pp.), eine gesellschaftliche Aufgabe, deren Ziele sich nach dem gesellschaftlich Nützlichen und Erwünschten richten und damit wie die ganze Weltgesellschaft der revolutionären Veränderung unterliegen. Das Gesellschaftssystem prägt die Inhalte und die Methoden der Erziehung; Eltern, Lehrer etc. sind dabei Mittler und Vermittler, neben anderen Kanälen, auf denen die Gesellschaft erzieht und/oder deformiert. Die Rolle ihrer individuellen Persönlichkeiten und des persönlichen Einflusses auf die Kinder und Jugendlichen wird damit keineswegs geleugnet, erfahrungsgemäß ist sie oft entscheidend, aber was diese Eltern – und Lehrer etc. – selbst für Persönlichkeiten sind, muß ebenfalls als gesellschaftliche Erscheinung begriffen und kritisiert werden.
Ein wesentlicher, sogar vorrangiger Bestandteil der Erziehung muß demnach mE auch die Vermittlung gesellschaftlicher Erfahrungen, der gesellschaftlichen Sensibilität und der Fähigkeit sein, sich aktiv mit gesellschaftlichen Problemen auseinanderzusetzen.
Intensive Beschäftigung mit der instrumentalen Darstellung klassischer westlicher Musik, Chuas ausschließliches Betätigungsfeld, mag durchaus ihre erzieherischen Funktionen haben und den Beteiligten vieles geben, was auch in anderen Praxisfeldern günstige Auswirkungen hat, abgesehen von der individuellen Befriedigung, die sie vielfach vermitteln kann, aber daß als solche sie das Kind, den Jugendlichen für gesellschaftliche und politische Fragen öffnet, kann man sicher nicht behaupten.
Chua liegen Thematisierungen dieser Art fern. Schon die gesellschaftliche Stellung ihrer Familie (beide Eltern sind relativ hochrangige Juraprofessoren der USA) und überhaupt das Gesellschaftssystem der USA wie auch das System Chinas (egal ob das archaisch-feudale, das revolutionär-sozialistische oder das derzeitige bürokratisch-kapitalistische) sind keinerlei Gegenstände ihrer Reflexion. Sie reflektiert auch nicht ihre eigene Entwicklung, weder die Herkunft ihrer Vorstellungen vom gnadenlosen Wettbewerb schon der 3jährigen um die besten Plätze noch die Hintergründe und die Konsequenzen ihres Scheiterns an ihrer jüngeren Tochter.
Lediglich die schematische Gegenüberstellung von chinesischen – wie sie sie versteht – und „westlichen“ Prinzipien – die sie von vornherein kaum versteht, höchstens äußerlich, weil sie die gesellschaftlichen und historischen Hintergründe nicht thematisiert, nicht thematisieren kann oder will – beherrscht Chua, und die exerziert sie in dem Buch ständig wiederholt durch.
Man muß ihr zugestehen, daß sie das durchaus auch mal humorvoll und mit etwas Selbstironie tut, aber ihr ganzer Horizont ist denkbar eng und für die Erörterung von prinzipiellen Fragen der Erziehung völlig unzureichend. Die Verengtheit auf die typischen Sorgen der karrieristischen akademischen, politisch völlig angepaßten Kleinfamilie auf dem Niveau der höheren Bourgeoisie der USA stößt regelrecht ab.