Das Auftrumpfen von Banden wie „IS“ bzw. „ISIS“ mit ihren „Kalifen“ und dergleichen gehört zu den unmittelbaren – und vorhersehbaren – Folgen der Politik der USA und ihrer Verbündeten im Raum zwischen Libyen und Afghanistan während der vergangenen 35 Jahre. Alles Lamento in den Medien über die Grausamkeiten, die dort seit langem an der Tagesordnung sind und nun anscheinend in so etwas wie dem „Islamischen Staat“ kulminieren, kann die Verantwortung nicht verdecken.
Mir scheint ein Rückblick auf die Entwicklung des islamischen Dschihadismus und die Rolle, die dabei die USA und weitere internationale Förderer gespielt haben und noch spielen, angebracht. Es sind nunmehr etwa 35 Jahre dieses Treibens zu verzeichnen, und unsere Medien üben sich bevorzugt in der Verschleierung der letztlichen historischen Verantwortung für die heute in vielen Regionen der Welt heuchlerisch bejammerten Greuel – da kann die Erinnerung an einige historische Fakten nur nützlich sein.
Es waren die USA, die den islamischen Dschihadismus zuerst, etwa ab 1979, für ihre geostrategischen Ziele in Afghanistan mobilisiert, organisiert, finanziert und bewaffnet haben. Er diente ihnen zu einer zehn Jahre sich hinziehenden militärischen Zermürbung und schließlichen Vertreibung der sowjetischen Okkupanten, die ein wesentlicher Sargnagel für die Existenz der damals noch rivalisierenden Supermacht Nr. 2 werden sollte.
Wichtigste Partner für die von den USA betriebene Propaganda und Organisation des „Heiligen Krieges gegen die Ungläubigen“ wurden bekanntlich u.a. Saudi-Arabien, wobei außer dem Hause Saud u.a. auch ein gewisser Bin-Laden-Clan, gleichfalls mit guten Beziehungen zur Präsidentenfamilie Bush, sich hervortat, sowie Kräfte in Pakistan und anderen islamischen Regionen. Die USA wurden Verbündete der partikularistischen regionalen Warlords Afghanistans, die unterschiedlichen islamischen Richtungen anhängen und sich aus unterschiedlichen Ethnien rekrutieren. Im weiteren kooperierten die USA durchaus auch mit sog. Taliban, bis mit den Ereignissen von 2001 eine gewisse Wende eintrat, indem die USA nunmehr selber Armeen nach Afghanistan entsandten, um dort einen lange gewünschten geostrategischen Stützpunkt erster Klasse gegenüber Russland und China zu errichten.
Viele mit den USA verbundene westliche Staaten bemühten sich im Zug dieser Ereignisse um ergänzende, teilweise wohl auch untergründig konkurrierende militärische Stationierungen in dem Land und trugen auf ihre Weise zu einer ebenso umfangreichen wie blamablen politisch-militärischen Episode bei, die erst jetzt, nach fast 15 Jahren, sich anscheinend in der Abwicklung befindet.
Dem islamischen Dschihadismus wurden in der Periode nach 1979, zumeist im direkten Interesse der Supermacht, auch reichlich weitere Betätigungsfelder eröffnet, so im Süden der einstigen Sowjetunion (Bsp. Tschetschenien und Nordkaukasus, Stichwort Beslan), bis hin nach Bosnien-Herzegowina, auch in Afrika und in weiteren Regionen der Welt. Teilweise waren seine Interessensverbindungen mit den USA offensichtlich, wie im Kampf gegen Russland im kaukasischen Umkreise, teilweise diente er, wie in Afrika mehrfach zu beobachten, dazu, dortige Regimes in Situationen zu drängen, wo sie um Militärhilfe und militärische Stationierungen der USA einkamen.
(Es konnte im jahrzehntelangen Verlauf der Organisierung, Stärkung und politischen Funktionalisierung dschihadistischer Kräfte durch die USA nicht ausbleiben, daß Teile davon sich relativ verselbständigt und eigene, auch gegen den Ziehvater selbst gerichtete terroristische Unternehmungen in Angriff genommen haben, wie z.B. in Afghanistan, wo Beobachter neben „Taliban“, die Provokationen im Sinne der USA verüben, auch „Taliban“ vermerken konnten, die vor allem für die Niederlage und den Abzug der USA etc. kämpfen.)
Der zweite Krieg, den die USA 2003 zusammen mit der Pudelmacht Großbritannien im Irak zwecks Sturzes des Saddam-Hussein-Regimes anzettelten, führte unmittelbar zur Zerstörung wesentlicher zivilisatorischer und moralischer Grundlagen. Bis heute ist nicht einmal die Stromversorgung völlig wiederhergestellt. -Zigtausende Menschen sind Opfer der Attentatswut der entfesselten Reaktionäre untereinander und gegen die Bürger geworden.
Politisch wesentlich ist vor allem die durch die US-Kriege und das US-Besatzerregime entfesselte offene politisch-militärische Konkurrenz der unterschiedlichen reaktionären Regional- und Partikularmachthaber des Irak. Man kann davon ausgehen, daß diese sich nicht nur auf divergierende Ethnien (Kurden, Araber, Turkmenen usf.), nicht nur auf verfeindete islamische Richtungen (Schia-Sunni) stützen und aus der Anstachelung solcher Gegensätze politisches Kapital zu ziehen gewohnt sind, sondern auch zu konkurrierenden internationalen Hintergrundmächten Beziehungen unterhalten. Hier kommen außer den USA auch China und Russland sowie europäische Staaten in Frage, schließlich natürlich auch Iran und die ihrerseits miteinander konkurrierenden Golfstaaten. Emsig arbeiten sie an der Schürung der Konflikte, um kleine Anteile am Kuchen zu erhalten.
Das geht dort so seit 2003 und ist der wahre Inhalt des sog. nation-building, einer zynischen Phrase der USA. Nie und nimmer war eine Demokratisierung des Irak, eine Integration seiner unterschiedlichen Komponenten in so etwas wie eine Nation das Ziel der USA. Die Phrase dient vor allem der Verschleierung, so als habe man eigentlich etwas Gutes gewollt, aber unter dem Druck der Ereignisse im weiteren nicht realisieren können.In Wirklichkeit wollte man vor allem die Zerstörung von wachsenden gesellschaftlichen und politischen Strukturen, die der Dominanz Israels und der USA gefährlich zu werden drohten. Selbst unter einem Diktator wie Saddam Hussein war der Irak mit seiner Förderung von Bildung und Wissenschaften, von zivilisatorischer Infrastruktur so etwas wie ein Zeichen, daß es auch in der arabischen Welt Fortschritt geben kann.
Man sollte sich mit Mediengequassel über angeblichen guten Willen der USA, der leider von Inkompetenz in der Praxis unterlaufen worden sei, nicht abgeben, sondern in der weiteren Analyse davon ausgehen, daß die zerstörten und weitere Zerstörung zeugenden Verhältnisse dort eben die Absicht waren.
Und was steht hinter solchen Absichten?
Wahrscheinlich die Vorstellung, daß die gesamte Region von der Levante bis hin nach Pakistan für die USA letztlich noch am besten zu kontrollieren wäre, wenn alle Ansätze zu moderneren und selbständigeren Staaten, wie schwach auch immer unter solchen Machthabern wie Saddam Hussein, Ghaddafi, Assad, zerschlagen würden, sodaß in weiten Regionen antizivilisatorische fanatische partikularistische Mörder- und Räubercliquen die politische Szene dominieren. Auch solche vergleichsweise als respektabel porträtierten Machthaber wie der erst jetzt in Ungnade gefallene al-Maliki, schiitischer „Ministerpräsident“ des Irak von Gnaden der USA, oder die Sultane der verschiedenen rivalisierenden kurdischen Gruppen, die jetzt das Bollwerk gegen „IS“ hergeben sollen, sind letztlich nur wenig entfernt von dieser Charakteristik.
Neuere brutalstmögliche Höhepunkte dieser Politik sind ferner in Libyen und Syrien zu verzeichnen. In Libyen bombten Großbritannien und Frankreich, mit den USA „leading from behind“, das Ghaddafi-Regime weg, mit der unweigerlichen Konsequenz, daß das Land konkurrierenden Banden in die Hände fiel, die nunmehr ihre Fehden rücksichtslos austragen und – soviel darf man wohl annehmen – ihren verschiedenen konkurrierenden internationalen Hinterleuten Teile an der Beute, Ölvorkommen und Regionen, zuzuschanzen haben. Die Konsequenz mußte selbst schlichten Gemütern, die, das sei neidlos zugestanden, in den Regierungsapparaten der USA, Frankreichs und Großbritanniens reichlich zu finden sind, von vornherein klar sein.
In Syrien propagierten die USA, zunächst im Einklang mit europäischen Verbündeten, die Entfesselung des sunnitischen Dschihadismus zwecks Sturzes des Assad-Regimes und des Aufbrechens der sog. schiitischen Achse Libanon-Syrien-Iran, ein Ziel, auf das dem Vernehmen nach insbesondere Israel gedrängt haben und noch weiterhin drängen soll.
Das Unternehmen Syrien entwickelt sich mittlerweile zum politischen Desaster aus verschiedenen Gründen, so wegen der Härte des Assad-Regimes und seiner Verbündeten, auch wegen mittlerweile deutlicher artikulierten Dissenses zwischen europäischen Regierungen und den USA, und schließlich wegen unterschiedlicher strategischer Überlegungen in den herrschenden Kreisen der USA selbst, wo die Zerbombung des Iran schon immer nicht ungeteilt für zweckmäßig gehalten wird (s. meinen Beitrag v. August 2013). Die weitere Entfesselung und Enthemmung islamistischer Marodeurs- und Killerbanden, wie IS und vieler anderer, in Libyen, Syrien, Irak ist jedoch ein unausweichliches und weiter um sich greifendes Ergebnis dieser Politik.
Um nicht nur Negatives zu zeichnen, was schon aus allgemeinen geschichtsphilosophischen Gründen völlig falsch wäre, möchte ich hier zwei Punkte anführen:
1. Das mörderische Chaos der Region ist nicht nur ein Symptom des – zwar niedergehenden, aber durchaus noch weiterwirkenden – Einflusses der USA, Israels und anderer „westlicher“, d.h. letztlich imperialistischer Kräfte sowie der mit ihnen besonders verbundenen Teile des internationalen Finanzkapitals (wozu auch das der arabischen Ölstaaten am Golf gehört), sondern auch ein Symptom des Verlusts an kontrollierender politischer Kraft derselben.
Nicht nur, daß andere internationale Machtgruppierungen wie China in das Chaos vorstoßen, sondern vor allem auch, daß die moderne Gesellschaft überhaupt in die noch immer vor allem von den islamischen Reakionären vor Ort dominierten Gesellschaften hineinwirkt. Die moderne Welt stimuliert Wünsche und Regungen der Massen und stellt archaische Strukturen in Frage. Auf welchen Wegen und Umwegen diese sich durchsetzen werden, kann ich nicht beurteilen. Indirekt aber ist z.B. die Propagandaphrase vom „arabischen Frühling“ durchaus ein Indiz dafür, daß diese Gesellschaften auch von innen her aufbrechen. Die Massaker der Islamisten sind auch Folge ihrer weltanschaulichen Verunsicherung. Je weniger Überzeugungskraft Kalifate und dergleichen Konzepte noch zu entfalten wissen, desto brutaler ihr Terror, der aber letztlich zum gegenteiligen Erfolg beitragen wird.
Die Autoren der Phrase vom „Arabischen Frühling“ versuchten, moderneren und demokratischeren Regungen die Spitze zu nehmen, indem wie in Ägypten der eine oder andere überlebte Diktator den Wünschen der Massen geopfert und gleichzeitig die Kontrolle zwielichtiger neuer Führungselemente etabliert werden sollte, oder aber auch das – letztlich vom Imperialismus immer noch für kontrollierbar gehaltene – totale Chaos angestachelt wurde. Bei den jetzt zu beobachtenden Strukturen bzw. chaotischen Verhältnissen wird die Entwicklung jedoch nicht stehenbleiben.
2. Die deutlich zunehmende Rivalität zwischen den wichtigsten Kapital- und Machtzentren der Welt (USA, China, auch eine sich nach und nach verselbständigende EU, Russland) verschafft nicht nur den zahlreichen rivalisierenden regionalen Cliquen und reaktionären Regionalmachthabern mehr politischen Maövrierraum, sondern im Grundsatz auch den eventuell sich formierenden moderneren Kräften im arabischen und darüber hinaus im gesamten von der islamischen Kultur geprägten Raum. Unsere Medien verschweigen, jedenfalls bis heute, sehr konsequent jeden Hinweis auf derartige Regungen. Selbst ein Autor wie der soeben verstorbene Peter Scholl-Latour, der anscheinend Experte im Auseinanderhalten der verschiedenen Regionalcliquen und der internationalen Einflüsse war, hatte entschieden zu viel Ehrfurcht vor altertümlichen und religiös getönten Strukturen (wenn jemand díe nicht so ins Zentrum stellt wie Jürgen Todenhöfer, wird er mit weitgehender Verweigerung von Medienpräsenz bestraft). Ich bin demgegenüber davon überzeugt, daß sie in einem Abwehrkampf stehen, den sie letztlich nicht gewinnen können.
Schande auf alle unsere westlichen „Demokraten“, die ihnen lebensverlängernde Spritzen verabreichen, sie propagieren, ihnen Waffen geben usf.
Ergänzung (18.8.2014): ich stoße eben , in der „Asia Times Online“auf einen Gastbeitrag von Moufid Jaber, der im Internet als Mitarbeiter eines Beirut Center for Middleeast Studies auftritt.
http://www.atimes.com/atimes/Middle_East/MID-01-150814.html
Jaber äußert interessante Thesen über die politische Rolle des sog. „IS“ sowie der Kurden, die ihn angeblich so hart bekämpfen und dafür unbedingt Waffen auch von Deutschland haben wollen. Er sieht vor allem Israel als Kraft hinter den Kulissen eines größeren politischen Manövers.
Ob das alles so zutrifft, oder den politischen Kern der Dinge genau trifft, kann ich nicht beurteilen; als ein Beitrag mit eigener Sichtweise ist der Artikel von Jaber aber mE jedenfalls lesenswert – schon mal als Kontrapunkt zu solchen politischen Dämlichkeiten, wie sie bspw. ein Jasper von Altenbockum in der „FAZ“ von sich gibt. Als politische Rechtfertigung für seinen Schrei nach deutschen Waffenlieferungen an die Barzani-Kurden scheint es von Altenbockum schon ausreichend, die Massaker des IS als besonders schlimm auszumalen. Wenn man bloß Meldungen über etwas ganz besonders Schlimmes auf der Welt braucht, um die deutsche Politik zu schwerwiegenden außenpolitischen Kurswechseln zu veranlassen, dann gutNacht.
Immerhin hat Steinmeier, den Berichten zufolge, auf den kurdischen Wunsch nach deutschen Waffen bislang ausweichend reagiert. Warum sollte man auch solche durch die viele Jahrzehnte hin als israelische und US-Agenten diskreditierte Kurdensultane bei ihren Politik der endgültigen Spaltung des Irak noch besonders ausrüsten?
Hierzu weitere Ergänzung (04.09.14): Immerhin ist nach der Wendung der deutschen Außenpolitik, nun doch „den Kurden“ Waffen zu liefern, die Langsamkeit in der Ausführung zu bemerken. Es könnte sein, daß das sog. Kalifat des IS schon wieder zerfällt, bevor die Barzani-Kurden wirklich den Abzug betätigen.
Weitere Ergänzung (17.09.14):
In einem Beitrag von Peter Lee, http://www.atimes.com/atimes/Middle_East/MID-01-170914.html, wird vermutet, daß die USA den sog. IS absichtlich propagandistisch so enorm herausstellen (wenn sie ihn nicht sogar direkt gefördert oder sogar selbst initiiert haben – meine Vermutung, wgr), um ein erneutes eigenes militärisches Eingreifen im Irak und möglicherweise bald auch in Syrien zu rechtfertigen und davon ausgehend zusammen mit einer entsprechenden Koalition gewisser anderer mittelöstlicher Kräfte dem Ziel des Sturzes des Assad-Regimes bzw. seiner Paralysierung doch noch näher zu kommen. Lee zufolge werden Russland und vor allem China dieser neuen imperialistisch- dschihadistischen Volte der USA und ihren Ausstrahlungen in Afghanistan, in China-Xinjiang und in Südostasien nicht tatenlos und abwartend zusehen.
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Ich verspreche jede sachlich irgendwie relevante Zuschrift dann im Anhang zu dem betr. Beitrag zu veröffentlichen, auch wenn sie mit meinen Ansichten garnicht übereinstimmen kann.