Zum Andenken an Hartmut Dicke (Klaus Sender) – Politische Kreativität und kulturhistorische Sensibilität

Hartmut Dicke hat seine politische Tätigkeit im Rahmen der  – vorwiegend studentischen – revolutionären Aufwallungen Ende der 60er Jahre, vor rund 50 Jahren begonnen. Er wurde aufgrund seiner Einsatzbereitschaft, seiner Geradlinigkeit und intellektuellen Schärfe bald zu einer wichtigen Person in den zahlreichen Auseinandersetzungen innerhalb der damals entstehenden „ML“-Bewegung („Marxisten-Leninisten“) und der folgenden Bemühungen, eine KPD/ML zustande zu bringen.

Der letztliche Misserfolg dieser Phase,  der bald in einen Zustand organisatorischer Getrenntheit mehrerer KPD/MLs auslief, zwang ihm und einem Kreis von Mitkämpfern zunächst die ungewollte organisatorische  Form einer separaten KPD/ML mit dem unterscheidenden Zusatz „Neue Einheit“ auf.

Diese Organisation schaffte es in ständigen und scharfen Auseinandersetzungen mit dem politischen System der BRD  und mit anderen sich auf „den ML“ stützenden kommunistischen politischen Organisationen nicht einfach nur sich zu halten, sondern sich rasant politisch eigenständig zu entwickeln. Das wesentliche Verdienst liegt bei Hartmuts ständiger Arbeit an der politischen Analyse und seiner straffen organisatorischen Führung. Mitte der 90er Jahre benannte die Organisation sich um in „Gruppe Neue Einheit“.

Anfänglich in der ML-Bewegung von einer politischen Doktrin ausgehend, die auf dem theoretischen Studium früherer kommunistischer Bewegungen  und teilweise abstrakten oder irreführenden  Lehrsätzen fußte, entwickelte Hartmut Dicke im Rahmen der von ihm geführten Organisation vieles weiter, immer in Richtung größerer gesellschaftlicher Konkretheit und auch historischer Neubewertungen.

Die Auseinandersetzungen mit den jeweils aktuellen allgemeinen politischen Fragen hatten jederzeit große Spannweite. Sie reichten von der gewerkschaftlichen Arbeit im eigenen Land  zu den Fragen der Entwicklungen in China und zu der gesamten internationalen Auseinandersetzung mit Kapitalismus, Imperialismus und Sozialimperialismus. Immer zielte sie auf die Entwicklung einer internationalistischen revolutionären proletarischen Bewegung.

Die Stringenz der Beziehung auf die Gesamtheit des internationalen Klassenkampf  verschaffte der Organisation unter Hartmut Dicke im Lauf der Zeit immer mehr reales Wissen und die Fähigkeit zu treffenden Analysen.

Herausragende Beispiele hierfür bereits aus der Zeit ab 1975 sind z.B. der Kampf gegen die beginnenden Produktionsverlagerungen, gegen die sog. „Kampagne gegen Kernenergie“ und überhaupt gegen grün-alternative Vorstellungen, deren innerster Antrieb aus der vergeblichen Hoffnung sich speist, den Kapitalismus irgendwie letztlich zu konsolidieren – und die verblödende imperialistische Privilegiertheit reicher Nationen auf die Spitze zu treiben.

 

Hartmut Dicke stieg bis zu seinem überraschenden und noch immer ungeklärten Tod im April 2008 immer tiefer auch in übergeordnete Fragen der Entwicklung des Sozialismus und Kommunismus weltweit ein. Es entstanden bspw. Analysen der zum Sozialimperialismus degenerierten Sowjetunion,  zur Rolle Mao Zedongs und insbesondere der Kulturrevolution in China und zur Entwicklung des Drei-Welten-Schemas der internationalen Politik unter Mao.

Viele dieser Ergebnisse wurden im Rahmen der Möglichkeiten der Organisation in die öffentliche Diskussion eingebracht, dazu zählen auch Millionen im Lauf der Jahrzehnte verteilte Flugblätter für Betriebe und andere Teile der Öffentlichkeit. Ab Ende der 90er Jahre gewann dann die Propaganda im Internet immer mehr an Bedeutung.

Die Organisation beteiligte sich auch  immer wieder an gemeinsamen Aktionen, Demonstrationen, Kampagnen zusammen mit anderen Kräften, so z.B. gegen die Unterdrückung der Palästinenser (1982), gegen die Irak-Kriege der USA und Verbündeter 1991 und 2003, gegen den NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999, gegen die Hartz-Gesetze usf. Sie war jederzeit auch stark praktisch engagiert.

 

Aus  dieser Entwicklung muss aber jedenfalls eine Reihe ungewöhnlicher historischer und kulturkritischer Ausarbeitungen Hartmuts besonders herausgehoben werden, die seit 1989 bis 2008 entstanden sind und meiner Meinung nach weiterhin für linke und demokratische Kräfte wichtige Grundlagen, jedenfalls aber enorme Anregungen bieten. Sie haben große Bedeutung, und dies auch  im internationalen Rahmen  .

Hier ist vor allem die Schrift „Leninismus und Zivilisation, Einführung zur Kritik“ zu nennen  (1989, erschienen noch unter dem Pseudonym Klaus Sender).

In der Auseinandersetzung mit Lenins Weg in der  Agrarfrage Russlands, zentriert um die Frage der russischen Dorfgemeinschaft und um die Gegensätze zwischen Lenin und den Bolschewiki einerseits, Marx und Engels andererseits, legte Hartmut Dicke Grundlagen dar für das Verständnis der Entwicklung der europäischen Kultur im allgemeinen wie auch der speziellen Grundprobleme der weiteren Entwicklung der russischen Revolution.

(Meines Erachtens ist die Sowjetunion letztlich auch, und vielleicht gerade wegen, schwerer Fehlentwicklungen in der Agrarfrage  vom revolutionären Entwicklungsweg immer mehr abgekommen und von Bürokratismus, Schematismus und Chauvinismus  schließlich überwunden worden.  Das steht so nicht bei Hartmut Dicke, aber er liefert mehr als nur Hinweise, dass die Entwicklung von solchen Ausgangspunkten aus aufgeschlüsselt werden könnte.)

Eine andere bedeutende Arbeit: „José Carlos Mariátegui und kulturelle Fragen der peruanischen Revolution“ (1997, ebenfalls noch unter dem Pseudonym Klaus Sender).

Mit der Arbeit „Über die Herkunft des Judentums – Entwicklung und Bedeutung“ (2003) hat es Hartmut Dicke unternommen, kulturelle Grundfragen, die uns bis heute in vielfältiger Form bewegen, von ihrer Entstehung her zu beleuchten, die im 2. und 1. Jahrtausend v.u.Z. anzusiedeln ist.

Überhaupt befasste sich Hartmut Dicke, neben ständig fortgesetzter tagespraktischer Tätigkeit, immer intensiver mit langzeitigen kulturellen und historischen Voraussetzungen der Möglichkeit heutiger revolutionärer Bewegungen. Sein umfangreiches und präzises historisches Wissen und seine Feinfühligkeit in kulturellen Dingen unterscheiden ihn von Schematikern.

Neben der Kritik an Lenin sind hier zu nennen mehrere Komplexe, die intern bearbeitet und diskutiert wurden, aber leider nicht mehr das Stadium abgeschlossener öffentlicher Beiträge erreicht haben: so zur chinesischen Geschichte und Kultur, zu modernen weltanschaulichen Richtungen wie der „Frankfurter Schule“, und schließlich, wohl das wichtigste Projekt überhaupt, zur Kritik an Marx.

Hartmut Dicke zeigte sich fähig alles zu prüfen und, wenn notwendig, scharf zu kritisieren, was ursprünglich unter dem Stichwort „Marxismus-Leninismus“ als Grundlage und Ausgangspunkt genommen worden war und hatte gelten müssen. Die historische Konkretheit und damit die Tauglichkeit für die Fortsetzung der Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus, in welchen Formen auch immer, setzte er für seine Arbeit und die der Organisation fortschreitend durch.

Internationale kulturelle und kulturgeschichtliche Aspekte rückten dabei sehr stark ins Zentrum.

Diese sind weiterhin höchst produktiv; dem grassierenden linken (oder schon länger kaum noch linken) Dogmatismus und Ökonomismus gegenüber erst recht. Die Rolle der USA und des von ihnen vertretenen – und bis jetzt noch geführten – internationalen Kapitalismus hat eben auch sehr spezielle eigene kulturelle Grundlagen, ebenso die chinesische Revolution, und nicht zuletzt der heutige Aufstieg des auf seine eigene sehr spezielle Weise kapitalistischen, herausfordernden China.

Kurz vor seinem Tode konnte Hartmut Dicke noch eine Analyse zum Verhältnis von proletarischer Revolution und nationaler Frage Deutschlands veröffentlichen, unter dem  Titel „Die Doppellage am Ausgang des 1. Weltkrieges“ (2008).

Niemand ist ohne Fehler: Hartmut Dicke zögerte manchmal zu lange, sich von lange gehegten Anschauungen zu trennen; er beklagte selbst mitunter, dass er mit wichtigen Arbeiten zu spät in die Öffentlichkeit gelangt sei. Eine der Ursachen dürfte in einer gewissen Ablenkbarkeit und Provozierbarkeit durch nebensächlichere Felder von Auseinandersetzungen zu suchen sein. Ein besonders problematischer Fall einer zu lange konservierten persönlichen Beziehung gehört mit zu seinen Hemmschuhen.

Der nach Hartmut Dickes Tod bis heute noch unter „Gruppe Neue Einheit“ bzw. „Verlag Neue Einheit“  firmierende Restbestand an Personen, von dem ich mich ab dem Jahre 2010 getrennt sehen musste, hält immerhin das publizierte Erbe Hartmut Dickes öffentlich verfügbar. Was den eigenen Anspruch dieser Leute auf Fortsetzung seiner Politik betrifft, sieht es allerdings kümmerlich aus.

 

 

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