Wer auch immer Nawalnyj vergiftet haben mag oder auch nicht, ein wesentlicher Pfeiler der riskanten und nicht-tragfähigen deutschen Energiepolitik dürfte soeben eingestürzt sein. Deren Wackligkeit hat allerdings noch weitere Gründe, die hier im weiteren aber übergangen werden müssen.
Die Politik des Ausstiegs aus der Kernenergie, begonnen durch die Schröder/Fischer-Regierung, und ihre Fortsetzung durch die verschiedenen Kanzlerschaften Angela Merkels war nicht nur durch eine Verheißung sog. Erneuerbarer Energien wesentlich gestützt gewesen, sondern gerade auch durch die erhoffte vermehrte und sichere Verfügbarkeit russischen Erdgases.
Die Unzuverlässigkeit einer auf diese „Erneuerbaren“ umgestellten Stromversorgung würde durch den stark vermehrten Bau von Gaskraftwerken ausgeglichen werden, hieß es, die rasch zu- und abgeschaltet werden können, wenn die „Erneuerbaren“ lückenhaft produzieren, und der Brennstoff sollte hauptsächlich aus Russland kommen. Nach der Zuspitzung des Verhältnisses zu Russland „wg. Nawalnyj“ und auch wegen der Probleme in Belarus dürfte der Zustrom des Brennstoffs jedoch nun deutlich knapper und unsicherer ausfallen, der bisher propagandistisch als sicher bezeichnet worden war.
Die zunehmende strategische Abhängigkeit des Energiesystems Deutschlands von einer äußeren Macht mit ausgeprägten Eigeninteressen und erheblichem Erpressungspotential war von Anfang an kritisiert worden, aber im deutschen politischen System mit seiner Medieneinfalt, seiner Abneigung gegen Diskussion strategischer Fragen und seiner langjährigen merkelianischen politischen Ruhigstellung durfte das kein wichtiges Thema werden. Jetzt haben wir den Salat.
(Nachbemerkung 04.9.20: Mit Datum 05.9.20 erscheint in der „FAZ“ ein Beitrag eines Energieexperten, Prof. Bettzüge, mit der These, dass eine eventuelle Nichtrealisierung von Northstream2 die Sicherheit der Versorgung Deutschlands mit Gas nicht grundlegend in Frage stellen würde; die Effekte wären vor allem preislicher Art. Wenn das zutrifft, wäre mein Eingangssatz, ein wesentlicher Pfeiler der deutschen energiepolitischen Konzeption sei eingestürzt, übertrieben. Ich will einen solchen möglichen Fehler nicht ausschließen.
Allerdings: sollte bereits beim Entstehen der Konzeption unter Schröder/Fischer um das Jahr 2000 die Versorgungssicherheit nicht der entscheidende Gesichtspunkt für die Vermehrung der Gasimporte aus Russland gewesen sein, dann müssen die geostrategischen Aspekte der engeren Verbindung mit Russland umso entscheidender gewesen sein, d.h. Aspekte von der Art, die ich im weiteren Teil meines Beitrags anspreche. Es kann aber auch sein, dass in 2000 und in den folgenden Jahren die Sicherheit der Versorgung aus anderen, nicht-russischen Quellen zunächst noch nicht gegeben war und sich erst später entwickelt hat. Das würde bedeuten, dass im ursprünglichen Konzept die Ausweitung des Gasimports aus Russland durchaus auch einen technischen Grundpfeiler gebildet hatte.
Festzuhalten bleibt auf jeden Fall die enge Verbindung des steigenden Gasimport-Bedarfs Deutschlands mit dem Konzept der Umstellung auf die sog. Erneuerbaren, d.h. in jedem Fall eine vermehrte Auslandsabhängigkeit, wenn auch eine „diversifizierte“ – mittlerweile liefern z.B. die USA einen beträchtlichen Teil des Gases, wahrscheinlich aus Frackingquellen, wie sie hierzulande verboten sind – und es bleibt eine strukturelle Abhängigkeit der „Erneuerbaren“ von fossilen Rohstoffen, statt Kohle wird eben mehr Gas verbrannt – alles höchst „ökologisch“, oder anders ausgedrückt: kapitalistischer Schwindel. Dass bei der Gasverbrennung weniger CO2 ausgestoßen wird, mag sein; wenn man sich auf die Argumentationsvoraussetzungen der Klimaschützer einlassen will, muss man aber auch fragen, welche zusätzlichen CO2-Mengen durch die zahlreich notwendig werdenden Neubauten anfallen….
So weit meine Nachbemerkung, nun zu den geostrategischen Aspekten:)
Die Entwicklung der Beziehungen Deutschlands und der EU insgesamt zu Russland stellen, auf einer viel allgemeineren Ebene als der Gasfrage, einen Teil der geostrategischen Verschiebungen dar, die im Gang sind.
Die Abkopplung der EU von den USA gehört dazu – wie weit sie gehen wird, ist heiß umkämpft, Trump stellt nur eine Facette der Möglichkeiten dar.
Die Europäer sind trotz aller Absetzungen von den USA gezwungen daran zu arbeiten, dass die USA als strategischer Partner nicht zu unsicher oder sogar zu einem Feind werden. Zu Trumps geostrategischen Ideen gehört die Verhinderung einer engeren Verbindung Chinas mit Russland, d.h. ein möglichst gutes Verhältnis der USA zu Russland, während die EU für ihn wie die meisten US-Amerikaner eher ein ärgerlicher Störfaktor ist, deren Schwächung und Untergang dort schon tausendmal vorhergesagt und von führenden Kreisen durchaus gewünscht wurde. Sie mögen das Phänomen des wachsenden europäischen Zusammenschlusses, der wachsenden ökonomischen Bedeutung und der selbständigeren internationalen Politik der EU nicht.
Die erklärte Gegnerschaft Trumps zu Northstream2 passt allerdings schlecht zu seinen Versuchen, Russland zu begünstigen; wie dieser Widerspruch erklärt werden kann, muss sich noch zeigen. Es wäre übrigens nicht der erste kaum erklärbare Widerspruch der US-Politik, der allerdings nicht hauptsächlich auf das Konto der persönlichen Bizarrerie eines Trump oder anderer geht, sondern aus der verfahrenen Lage der USA insgesamt resultiert, mit dem Verlust der Weltdominanz und dem inneren sozialen Zerfall als den Hauptkomponenten. Vielleicht gibt es auf anderen Ebenen Vorteile, die Russland seitens der USA in Aussicht gestellt werden; in diesem Falle wären allein die Deutschen die Dummen, während die Russen kompensiert würden.
Auf der anderen Seite steht das vor allem von China vorangetriebene Projekt „Eurasien“, mit den Verheißungen einer „Neuen Seidenstraße“, auch One Belt One Road (OBOR) genannt. Zwischen den Polen China und Europa soll fast der gesamte asiatische Raum gemeinsam – kapitalistisch – entwickelt werden, eine enorme Verlockung für die Europäer, die allerdings chinesischerseits so verstanden wird, dass die Kooperation in eine letztliche Unterordnung Europas unter ein imperiales China münden wird. Doch wie sich die Vorteile einer „eurasischen“ Entwicklung, sollte sie überhaupt massiv in Gang kommen, auf die Pole Europa und China und auch partiell auf die zwischen ihnen liegenden riesigen Territorien und Staaten tatsächlich verteilen würden, ist noch offen. Jeder qualitative Fortschritt „eurasischer“ Integrationsprojekte stellt allerdings die USA noch mehr ins Abseits.
Die geopolitische Konzeption der neuen chinesischen Bourgeoisie, die mittlerweile über wesentlich mehr ökonomische Masse verfügt als die USA, ist absolut unipolar. Multipolarität kommt darin durchaus vor, jedoch als Zwischenstadium, mit dem man andere potentielle oder tatsächliche Machtzentren einbinden kann, um letztlich bei einem Weltsystem mit China als der alleinigen Supermacht anzukommen, einer Vorstellung, die in Chinas kultureller DNA seit Jahrtausenden verankert ist.
Die größten Stolpersteine auf diesem Weg stellen allerdings – neben den beiden anderen asiatischen großen Mächten Russland und Indien – die Europäer selbst dar, die politisch zwar ängstlich sind und zur Subalternität neigen, wie sie ihnen die USA im 20. Jahrhundert anerzogen haben, aber kaum auf die Dauer in zu große Abhängigkeit von China sich werden bugsieren lassen.
Die Beziehungen zwischen der EU und Russland hatten in den letzten Monaten sich in pcto. Ukraine anscheinend etwas entspannt. Die Zuspitzungen um den Fall Nawalnyj, um Belarus, um Northstream2 sind eine starke Gegenentwicklung, deren Haupttreiber für mich derzeit nicht leicht zu identifizieren sind, ebenso wenig wie mögliche Kompromisswege. Sind die USA und innereuropäische Verbündete dieser Macht die Haupttreiber? Welche geopolitischen Konsequenzen wird Russland ziehen? Man kann in einem gewissen begrenzten Sinne Northstream2 als ein „eurasisches“ Projekt betrachten, wobei allerdings unklar ist, ob und welche chinesische Interessen im Spiel sind bei dem jetzt wahrscheinlich werdenden Scheitern. China, das in strategischer Hinsicht unbedingt Russland einbinden und an sich binden muss, dürfte nicht bloß unbeteiligter Zuschauer sein. Von der EU mit einem Scheitern von Northstream2 etc. düpiert, wird Russland wahrscheinlich weitere Annäherung an China und gemeinsame Druckausübung auf die EU erwägen.
Die Entwicklungen des gesamten Feldes der geopolitischen Spannungen, die sich in zunehmender Heftigkeit bemerkbar machen, müssen jedenfalls beachtet werden, um auch diese Teil-Zuspitzungen zu analysieren.
Dass Deutschland mit seiner merkwürdigen Energiepolitik, die seit langem von vielen europäischen Partnerländern als Affront verstanden wird, nicht nur in dem Aspekt Northstream2, jetzt größere Schwierigkeiten bekommt, ist möglicherweise ein Anstoß für Besseres, für eine bessere europäische Koordination und eine bessere Energiepolitik – man wird sehen.
Jedenfalls aber ist all das nur ein untergeordneter Aspekt der schwierigen internationalen Entwicklungen, wie zentral auch immer die Politik der sog. Erneuerbaren Energien und des sog. Klimaschutzes für die deutsche Innenpolitik bisher gewesen sein mag.
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