Zur Migrationsdebatte

Migration, ein wesentlicher Teil der Gesamtentwicklung unseres Landes, ist abhängig von den großen globalen Umwandlungen, die es längst ergriffen haben. Nicht nur das unsere.

Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft? Welche Entwicklung wird von ihrer Mehrheit tatsächlich gewollt, von ihren Minderheiten, von den unterschiedlichen Interessengruppen? Können die zunehmende Spaltung, das vielfältige Gegeneinander, das anscheinend um sich greift, eingehegt werden?  Geht Deutschland ökonomisch den Bach hinunter? Müssen wir mit weiteren europäischen Kriegen rechnen, die auch unser Land zu zerstören drohen ähnlich der Ukraine? Welche internationale Stellung soll es einnehmen inmitten der Rivalität von Großmächten wie den USA und China, inmitten zunehmenden Elends in großen Teilen der Welt?

In den letzten Monaten wurde von Parteien und Medien die Migrationsfrage in den Mittelpunkt gestellt, aus den übergeordneten Zusammenhänge gerissen und sachlich nach Kräften verdreht.  Anscheinend versuchen CDU/CSU und AfD, mit ihren Versionen der Migrationsfrage die anstehende Wahl zu gewinnen.

In den Bundestags-Anträgen der CDU/CSU, in den Forderungen der AfD kann ich keinen gesellschaftlich verantwortlichen Standpunkt erkennen, in den abwehrenden Stellungnahmen anderer Parteien auch kaum etwas Anderes als Panik vor dem drohenden eigenen Machtverlust.

Die Migrationsfrage wird nicht sachlich behandelt, sondern für Parteitaktiken instrumentalisiert. Als Beispiel: Merz‘ „neue Dimension der Gewalt“

Der sog. 5-Punkte-Antrag der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, der am 29. Januar 2025 mit knapper Mehrheit angenommen wurde, behauptet allen Ernstes, mit den jüngsten Mordattacken von Aschaffenburg und Magdeburg sei „eine neue Dimension  der Gewalt“ entstanden. Der Haupttreiber der Migration sei Russland mit seinen Schleusertätigkeiten.

Der Haupttreiber der Migration  nach Deutschland ist seit Jahrzehnten auf der einen Seite das Elend in vielen armen Ländern und andererseits das Begehren von Wirtschaft und Staat in Deutschland nach massiver Einwanderung.

„Eine neue Dimension der Gewalt“ ist eine realitätsfremde Parole. In den letzten Jahrzehnten hat es  immer wieder Mordattacken gegeben, mit denen die Öffentlichkeit beunruhigt wurde. Teilweise war der Zusammenhang der früheren Taten mit der Migration dubios, teilweise trugen sie migrantenfeindlichen Charakter. Sind der LKW-Anschlag auf den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz in Berlin oder die Attacke von Hanau vergessen? Als deren Täter wurden sowohl Menschen mit wie auch ohne  Migrationshintergrund benannt. In Merz‘ Anträgen wird gar nicht erst versucht zu belegen, in welcher Weise schärfere Einreisekontrollen und ein Mehr an Abschiebungen die gesellschaftlichen Quellen solcher Taten eindämmen und zu mehr Sicherheit führen sollen.

Und die Gegenseite, namentlich SPD und Grüne, gibt sich, als erkenne sie ihre eigenen Irrwege nicht, bspw. auf ökonomischen Gebiet oder in der Coronaphase, die ihr von der AfD um die Ohren gehauen werden, und könne der Bevölkerung ernsthaft ein Weiter so anbieten. Populismus pur auf allen Seiten.

Meine Überlegungen gehen in mehrere Richtungen:

  1. Deutschlands Bevölkerung besteht im Jahre 2025 zu ca. einem Viertel aus Menschen, die entweder selbst direkt eingewandert sind oder deren beide Eltern Migranten waren. So die Mitteilung des Statistischen Bundesamtes. Zudem werden in der nächsten Zeit weitere Millionen an unsere Grenzen pochen bzw. diese trickreich überwinden.

 

Die bisherige Einwanderung, die legale wie auch die weniger legale, wurde seit Jahrzehnten von der Wirtschaft und den überwiegenden Stimmen in der Politik befürwortet, ja regelrecht gefordert und, wenn illegal, doch in großem Maße geduldet. Ohne sie hätte das Land mittlerweile einen dramatischen Verlust an Einwohnern und Arbeitskräften verzeichnen müssen, was sowohl von der Wirtschaft wie den Bevölkerungsforschern als große Gefahr gesehen wurde.

 

Wie soll diese Situation in Zukunft  positiv weiterentwickelt werden, im Sinne von mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt und gemeinschaftlicher Sicherung der Existenzgrundlagen?

 

  1. Die deutsche Gesellschaft ist – noch – eine der reichsten der Welt. Ihr Reichtum, freilich recht ungleich verteilt, speist sich zu erheblichen Teilen aus einer internationalen Wirtschaftsstruktur, in der Länder wie die USA und fast alle europäischen Länder die dominierende Stellung einnehmen und durchaus als die Hauptprofiteure benannt werden können; mittlerweile ist mit China ein mächtiger Konkurrent und Rivale entstanden, der auf internationale Ausbeutung ähnlichen Zuschnitts hinsteuert.

 

Jedenfalls ist der Gesamtkomplex „unserer westlichen Länder“ Haupt- oder Mitverantwortlicher, Nutznießer von globalen Austauschverhältnissen, in denen große Teile der Weltbevölkerung aus der Armut nicht herauskommen können und die Ressourcen des Planeten rücksichtslos verschleudert werden.

 

Freilich sind die eigenen Strukturen vieler armer Länder durchaus mit zu kritisieren, bspw. in dem Sinne, dass sie von korrupten Oligarchien beherrscht werden, die an der Armut, der mangelnden Kultur und der politischen Ohnmacht ihrer Bevölkerungen mitverdienen und sie mit aufrechterhalten.

 

Wenn unter diesen Bedingungen in vielen dieser benachteiligten Zonen der Welt Migrantenströme entstehen und viele Menschen keine andere Lösung finden als selbst unter den größten Schwierigkeiten und Gefahren den Eingang in Gesellschaften zu suchen, in denen sie und ihre Familien sich vielleicht besser entwickeln können als im Elend Afrikas, des Nahen Ostens usf., dann ist dagegen kein Kraut gewachsen. Es wird auf die Dauer keine Grenze geben, die völlig dicht gemacht werden kann, auch wenn drei Meter hohe Zäune, Kriegsschiffe und Heere von Grenzsoldaten aufgeboten würden.

 

Wichtiger noch: unter diesen globalen Bedingungen entsteht eine moralische Verpflichtung für die Menschen der reichen Länder, an der Linderung des Elends mitzuarbeiten, sei es, indem sie für möglichst große Zahlen von Migranten Zuflucht und Existenzmöglichkeiten schaffen, sei es indem sie an der Entwicklung einer gerechteren internationalen Ordnung mitarbeiten.

 

  1. In Deutschland leben mittlerweile viele Millionen von Menschen, die noch immer nicht völlig oder kaum „integriert“ sind, wie es so schön heißt.

Millionen haben – noch – keine Einbürgerung, und ihre Verfahren dauern teilweise endlos, das Statistische Bundesamt führt nicht weniger als „13,9 Millionen ausländische Bevölkerung“ an. Millionen sind schon lange als „Asylsuchende“ hier oder wurden bspw. als die Flüchtlinge von 2015 hier aufgenommen. Sie fungieren zu erheblichen Teilen als billige Arbeitskräfte, die Vieles akzeptieren müssen; über einem Teil von ihnen hängt ständig die Drohung, eines Tages wieder abgeschoben werden zu können. Das Interesse aus der Wirtschaft an solchen ‚Reservearmeen‘ möglichst billiger und rechtloser Arbeitskräfte, aber auch an gut Ausgebildeten liegt auf der Hand und ist mE einer der Hauptgründe dafür, dass in den vergangenen Jahrzehnten dieser millionenfache Zustrom, der schon lange im Gange  ist, von der Politik nicht wesentlich eingeschränkt worden ist.

 

Viele von ihnen arbeiten sich beruflich und bildungsmäßig hoch und besetzen mittlerweile bessere Positionen, in denen sie auch dringend benötigt werden – weil aus der „Stammbevölkerung“ der Nachwuchs zu schmal ist.

Mit der Integration in der Arbeitswelt ist allerdings noch keineswegs eine volle gesellschaftliche Integration verbunden. Zu dieser gehören u.a. Sprachbeherrschung, Bildung und Kultur, die Bereitschaft, sich als mitgestaltende Bürger einer demokratischen Gesellschaft zu verstehen, sich zu engagieren und entsprechende Fähigkeiten zu entwickeln.

Die Förderung solcher positiven Entwicklungen kann nicht allein Aufgabe der Bürokratie sein.

Viel mehr Menschen könnten sich für die gesellschaftliche Integration engagieren. Sie  könnten zum Beispiel in der sprachlichen, der kulturellen Bildung von Migranten mitarbeiten, sie könnten bei der Bewältigung der Probleme im Arbeitsleben, im Umgang mit der Bürokratie und vielen anderen Problemen  den Betroffenen helfen. So werden gegenseitiges Unverständnis, kulturelle und religiöse Gegensätzlichkeiten, Missgunst und Spaltungen nicht die Oberhand gewinnen.[i]

Damit möglichst viele positive gemeinschaftliche Entwicklungsgeschichten sich ereignen können, braucht es nicht wenig Engagement, konkrete Arbeit, finanzielle Mittel usf. auf allen Seiten, und die Leistungsfähigkeit jeder Gesellschaft auch auf diesen Gebieten hat ihre Grenzen. Man wird keine Migrationspolitik erfolgreich machen können, die die Gefühle der Bürger dafür missachtet, wieviel sie selber zu leisten imstande und willens sind. Parolen wie: ‚alle Grenzen einreißen‘ oder ‚Kein Mensch ist illegal‘ sind vielleicht moralisch-kategorisch reines Gold, stoßen aber viele Bürger vor den Kopf, auf deren guten Willen und deren Kooperationsbereitschaft es letztlich doch ankommt, wenn es möglichst vielen Migranten hier einigermaßen gut gehen soll. Sie bewirken das Gegenteil dessen, was angeblich angestrebt wird.

Die Spaltungen werden denjenigen, die an der Aufrechterhaltung der ungerechten Verhältnisse interessiert sind, die Verlängerung ihrer Herrschaft sichern helfen.

Keineswegs nur in der Migrationsfrage wird es viel bürgerliches Engagement brauchen.

Viele Menschen, die den deutschen Pass in die Wiege gelegt bekamen, darunter auch manche Kinder und Enkelkinder von Migranten, haben sich mental von gesellschaftlicher Mitverantwortlichkeit entfernt bzw.  hatten noch nie viel Sinn dafür. In der Migrationsfrage trifft man nicht selten auf Muffigkeit, Abwertung, Missgunst, Unverständnis bis hin zu rassistischen Vorurteilen. Es gibt antideutschen Rassismus auch unter manchen Migranten  und der deutsche Staat hat seinerseits in der Vergangenheit immer wieder einmal eine merkwürdige Toleranz bspw. gegenüber islamistischer Hasspropaganda an den Tag gelegt.

Eine Gesellschaft, deren Bürger vor allem darum kämpfen – individuell oder als gesellschaftliche Interessengruppen –  vom herrschenden System für sich selber den maximalen Vorteil zu sichern, ohne die Gesamtentwicklung positiv beeinflussen zu wollen, ist zum Untergang verurteilt.

Ich habe nicht vor, Demokratie und Sozialstaat Deutschlands zu positiv zu zeichnen. Sie haben ihre Vorzüge; aber von wirklicher Demokratie und wirklicher Sicherung Aller zu sprechen wäre irreal.

„Die Deutschen“ bieten im Hinblick auf gesellschaftliches Engagement ein recht gemischtes Bild. Gesellschaftliches Engagement in vielen Fällen und Spielarten steht neben krassem Individualismus, Neid und Konsumismus.

Viele Bürger engagieren sich nach wie vor z.B. im ‚Ehrenamt‘, in sozialen und politischen Initiativen.

Als 2015 auf Einladung der Kanzlerin Merkel eine Welle von – nach offiziellen Angaben – 1.5 Millionen Menschen nach Deutschland kam, entstand auch eine Welle millionenfacher Hilfsbereitschaft für die Ankommenden. Das ist eine Seite.

Aber auch das Paar, das keine Kinder bekommen möchte, weil die Geld und Verantwortung kosten, sich aber teure Urlaubsreisen gönnt und vielleicht Hunde oder Pferde hält, gehört zum Bild.

Auch die Menschen, deren Löhne zu knapp und zu unsicher sind, um die Frage nach Nachwuchs positiv beantworten zu können, gehören dazu, und auch diejenigen, denen suggeriert wurde, dass sie als Deutsche, unter der historischen Last der Naziverbrechen, besser handeln würden, wenn sie auf Kinder verzichten und zum Aussterben dieser Nation beitragen.

Die negative demografische Entwicklung, die seit 1975 bereits vorausgesehen wurde und ein wesentliches Motiv für die Einwanderungspolitik der Bundesrepublik Deutschland war und ist, ist ein Produkt solcher mentaler, propagandistischer, ökonomischer und politischer Faktoren.

Zu sagen, dass ‚die Deutschen’ (in ihrer Masse) die Migration (in der Masse) selbst mit zu verantworten haben, wäre nicht völlig falsch; es müsste dann aber auch gesagt werden, unter welchen Umständen die Defizite an gesellschaftlich bewusstem, politisch verantwortlichem und zukunftsorientiertem Leben zustande gekommen sind. Die Existenz von „antideutschen“ Formationen und ‚antideutscher‘ Propaganda unter uns wäre eines der Symptome, die zu genauerem Nachdenken beitragen könnten. Davon ausgehend wäre es nicht weit zu fragen, woher das scheinbare Gegenbild kommt, eine AfD beispielsweise, die mittlerweile die Wolfszähne von „nationalem“ Egoismus und wirtschaftlichem Kampf aller gegen alle entblößt.

————

Ich hoffe, mit dieser Aufzählung von Entwicklungen, die in meinen Augen die Landschaft der Migrationsfrage fundamental prägen, ein wenig dazu beizutragen:

  • dass dem faktenfremden und moralisch höchst fragwürdigen Treiben, Migranten und „Deutsche“ gegeneinander auszuspielen und mit Verdrehungen dieser ernsten Frage sich parteitaktische Vorteile zu ergattern, etwas entgegengesetzt werden kann.

Was heute taktischer Vorteil bestimmter Parteien sein mag, wird der Gesellschaft insgesamt zu schweren Nachteilen gereichen. Man muss die Entwicklung nüchtern, aufs Ganze und auf Jahrzehnte blickend ins Auge fassen und politisch mehrheitsfähige, tragfähige Lösungen über viele gegenwärtige Spaltungen hinweg erarbeiten.

 

  • dass mehr Menschen sich den reichen Möglichkeiten gesellschaftlicher und politischer Aktivitäten zuwenden, mit denen Spaltungen überwunden und Kooperationen angebahnt werden.

 

  • dass der Blick sich weitet auf die globalen Zusammenhänge und die Defizite der gegenwärtigen Weltordnung, zu der auch unvermeidlich die wüsten kriegsträchtigen Rivalitäten reicher Oligarchien in Ost und West, Nord und Süd gehören.

 

——

[i] Eine Bemerkung zur Kriminalstatistik: wenn Menschengruppen – nicht immer zu Unrecht – sich dauernd als benachteiligt oder ausgegrenzt fühlen, werden sie stärker als der Durchschnitt zur Kriminalität neigen, bspw. zum Drogenmilieu oder zu Gewalttaten. Dass Migranten als solche eine stärkere Quelle von Kriminalität seien als Nichtmigranten, halte ich für eine wacklige These. Wer sich aber von der Gesellschaft nicht akzeptiert fühlt, wird sich auch nicht verpflichtet fühlen, deren Regeln einzuhalten.

 

========================================================

Technischer Hinweis zur Kommentarfunktion: diese musste ich schon vor mehreren Jahren abschalten wegen dauernden Missbrauchs für Webmüll und dergleichen. Bemerkungen zu meinen Beiträgen daher bitte an meine e.mail-Adresse wagrobe@aol.com. Ich werde jede Zuschrift, die irgendetwas Sachliches enthält, dann im Anhang zu meinem jeweiligen Beitrag auf dieser page veröffentlichen, wenn nicht vom Absender anders verfügt wird.

 

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.